Gegenwärtige westliche Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer Befindlichkeiten von einem (scheinbaren) Paradoxon gekennzeichnet: Einem gesellschaftlichen Imperativ auf Wohlgefühle korrespondiert eine alarmierende Zunahme an psychischen Leidenszuständen. So ist beispielsweise Burnout – im Gefolge von Stress – mittlerweile zu einer inflationär verwendeten “Modediagnose” in der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft geworden. Neue Suchtkrankheiten (z.B. “Skin Picking Disorder”, “Messie-Syndrom”) und Angstdiagnosen (z.B. Arbeitsplatzphobie, Panikattacken) haben sich in die Diagnoseindizes eingeschrieben, und die WHO prognostiziert Depressionen als zweithäufigste Zivilisationskrankheit. Aber auch individuelle Selbstwahrnehmungen basieren zusehends auf einem therapeutischen Blick, und Strategien und Modelle der emotionalen Selbstoptimierung boomen (u.a. Programme zur emotionalen Intelligenz, NLP).
Zentrale Ausgangsüberlegung für die Diskussionen auf dem Symposion ist die Annahme, dass die allerorten proklamierte zunehmende Prävalenz psychischer Leidenszustände im Kontext von Emotionalisierungsdiskursen zu analysieren ist: Im Zuge gegenwärtiger Transformationsprozesse werden vormals soziale Fragen in individuell‐emotionale transponiert. Die permanente Aufforderung zur Selbstreflexion, -optimierung und ‐präsentation geht mit einer deutlichen emotionalen Erschöpfung einher. Das Symposion möchte über Vorträge, Workshops und eine Podiumsdiskussion aus interdisziplinärer Perspektive der Frage nachgehen, wie diese Phänomene und Entwicklungen zu erklären sind bzw. wie sie sich über aktuelle Diskurse konstituieren. Der Dialog zwischen den Kultur- und Sozialwissenschaften und der Psychoanalyse soll vertieft werden. Neben der in der Soziologie u.a. von Alain Ehrenberg beschriebenen “Müdigkeit, man selbst zu sein”, die mit dem “neuen Zwang zur Freiheit” einhergeht, liegt dem Symposion die These zugrunde, dass insbesondere mit dem gesellschaftlichen Imperativ auf Wohlgefühle auch neue Unwohlgefühle entstehen, pathologisiert und als behandlungsbedürftig erachtet werden.
Programm und Ablauf
Freitag, 7.6.2013
- 9.00–10.00 Uhr: Elisabeth Mixa (Wien): Un-Wohl-Gefühle. Inhaltliche Rahmungen des Symposions Karl Krajic (Wien): Gesundheitssoziologische Perspektivierungen
- 10.00–11.15 Uhr: Christina von Braun (Berlin): Monetarisierung der Gefühle. Das Geld als Triebwerk von Emotion und Sexualität
- 11.15–12.30 Uhr: Monica Greco (London): Neurotic Citizenship, Polarisation and Controversy around “Medically Unexplained Symptoms”
- 14.00–15.15 Uhr: Paul Stenner (London): Liminality, Un-Wohl-Gefühle and the Affective Turn
- 15.15–16.30 Uhr: August Ruhs (Wien): Zum Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur
- 17.00–18.15 Uhr: Ilka Quindeau (Frankfurt/M.): Depressionen und Geschlecht
- 18.15–20.00 Uhr: Workshops
Stress und Burnout (Leitung: Sarah Miriam Pritz)
Das Geschlecht der Depression (Leitung: Nadine Teuber)
Unter Einfluss – mit Filmausschnitten zum Thema (Leitung: Edith Futscher)
Wellness (Leitung: Philipp Hauß)
Samstag, 8.6.2013
- 9.30–10.30 Uhr: Präsentation der Workshop-Ergebnisse
- 10.30–11.45 Uhr: Linda Heinemann (Leipzig), Torsten Heinemann (Frankfurt/M.): Diagnose Burnout: Zur gesellschaftlichen Produktion einer umstrittenen Diagnose
- 11.45–13.00 Uhr: Nadine Teuber (Frankfurt/M.): Das Geschlecht der Depression. Emotionsnormen in der Konzeptualisierung “weiblicher” und “männlicher” depressiver Störungen
- 14.30–15.45 Uhr: Birgit Sauer (Wien): Gefühle als Regierungstechnik. Eine geschlechtertheoretische Perspektive
- 16.00–17.15 Uhr: Christian von Scheve (Berlin): Anomie reloaded. Zur sozialen Strukturierung und kulturellen Codierung von Gefühlen
- 17.15–19.00 Uhr: Podiumsdiskussion: “Zwischen Wellness-Wahn und Depression. Macht uns diese Gesellschaft krank?”
Teilnehmer_nnen: Rainer Gross (Psychiater und Psychoanalytiker), Georg Psota (Leiter Psychosozialer Dienst Wien), Birgit Sauer (Politikwissenschaftlerin), Elisabeth Skale (Psychiaterin und Psychoanalytikerin), Bettina Zehetner (Frauen beraten Frauen), Moderation: Karl Krajic (Gesundheitssoziologe)
Tagungshomepage: http://un-wohl-gefuehle.univie.ac.at
Vortragende
Christina von Braun: Professorin für Kulturtheorie mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Geschichte an
der Humboldt-Universität zu Berlin.
Edith Futscher: Kunsthistorikerin und Senior Scientist für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst.
Monica Greco: Senior Lecturer in the Department of Sociology at Goldsmiths, University of London.
Philipp Hauß: Philosoph und Burgtheaterschauspieler; schreibt seine Dissertation an der Universität Wien
zum Thema “Wellness”.
Linda Heinemann: Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Biowissenschaften,
Pharmazie, Psychologie der Universität Leipzig.
Torsten Heinemann: Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heisenberg-Professur für Soziologie
an der Goethe Universität Frankfurt/M.
Karl Krajic: Soziologe, lehrt an der Universität Wien als Privatdozent, Sprecher der Sektion Gesundheitsund
Medizinsoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie.
Elisabeth Mixa: Soziologin, lehrt an der Universität Wien; Initiatorin und Obfrau von Imagine. Verein für
Kulturanalyse.
Sarah Miriam Pritz: Germanistin und Soziologin, schreibt ihre Dissertation an der Universität Wien zum
Thema “Burnout”.
Ilka Quindeau: Psychologin, Soziologin und Psychoanalytikerin, Professorin für Klinische Psychologie an der Fachhochschule Frankfurt/M.
August Ruhs: Psychiater, Psychoanalytiker, Universitätsprofessor; Mitbegründer und Vorsitzender der
Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule.
Birgit Sauer: Professorin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien.
Christian von Scheve: Juniorprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.
Paul Stenner: Professor in Social Psychology at The Open University (UK).
Nadine Teuber: Psychologin; in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut
(DPV).
Markus Tumeltshammer: schreibt an seiner Masterarbeit am Institut für Soziologie der Universität Wien
zum Kompetenz-Diskurs.
Konzeption und Organisation
Elisabeth Mixa unter Mitarbeit von Sarah Miriam Pritz und Markus Tumeltshammer
Symposion in Kooperation mit “Imagine. Verein für Kulturanalyse”, der Sektion Gesundheits-
und Medizinsoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie und der Wiener Psychoanalytischen Akademie