Nach der Österreichischen Revolution im November 1918 gab es vielfältige gesellschaftliche Aufbrüche: Neue Organisierungsweisen in der Politik, in den Künsten und in der wissenschaftlichen Weltauffassung. Eine Neuorganisation der Gestaltung von Texten, Bildern, Tönen …, aber auch neue – demokratische – Vorstellungen von der bewussten Gestaltung der Gesellschaft. Und: es wurden Zusammenhänge hergestellt zwischen den Gestaltungsmöglichkeiten des Massenhaften in der Gesellschaft, der künstlerischen Produktion für eine große Zahl und den Vorstellungen von den Massenvorgängen bei Molekülen, Atomen und Atomteilchen.
Programm
10.00 Johann Dvořák: Die große Zahl und die Erkennbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt
11.00 Christoph Limbeck-Lilienau: Boltzmann und Waismann über theoretische Modelle und Naturgesetze
12.00 Károly Kókai: Das Massenpublikum von Film und Kino
13-14.30 Mittagspause
14.30 Alexander Gruber: Die Kunst der Unfreiheit
15.30 Florian Ruttner: „Die Tendenz zur epischen Oper“
16.30 Christian H. Stifter: Demokratisierung des Wissens
Johann Dvořák: Die große Zahl und die Erkennbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt. Massenphänomene in Natur und Gesellschaft, Massenbewußtsein und Massenbildung bei Edgar Zilsel und Richard Robert Wagner
Edgar Zilsel und Richard Robert Wagner beschäftigten sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs mit der Erklärungs- und den Gestaltungsmöglichkeiten von massenhaften Vorgängen in der Natur und in der Gesellschaft. Dies ist zu sehen im Zusammenhang mit Aufbrüchen zur Demokratie. In der demokratischen Republik Österreich erschien zum ersten Mal die Gesellschaft als bewußt gestaltbar durch die große Zahl, durch die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger.
Christoph Limbeck-Lilienau: Boltzmann und Waismann über theoretische Modelle und Naturgesetze
Angesichts der Komplexität der Erscheinungen in der statistischen Mechanik schlug Boltzmann eine originelle Auffassung von wissenschaftlichen Theorien und Modellen vor. Modelle sind nicht ein wahres und exaktes Abbild der physikalischen Vorgänge, sondern eine Annäherung und ein Instrument, dass mit den realen Abläufen mehr oder weniger genau verglichen werden kann. Waismann greift diese Auffassung von Modellen auf und wendet sie auf die Analyse der Sprache an. Bei ihm werden Boltzmanns Modelle zu “grammatischen Modellen”. Aufgrund der tatsächlichen Komplexität der Sprache sind “grammatische Modelle” immer nur eine Annäherung an die Sprache und es sind immer verschiedene Modelle gleichzeitig möglich. Bei Waismann wie auch bei Boltzmann sind Modelle Annäherungen um komplexe Phänomene oder Massenphänomene in den Griff zu bekommen.
Károly Kókai: Das Massenpublikum von Film und Kino
Film und Kino machten nach 1918 eine bedeutende Entwicklung durch. Ihre gesellschaftliche Stellung festigte sich. Es entstand ein neues Kinopublikum. Es war neu seiner Zahl nach: „In Wien allein spielen allabendlich fast 200, sage zweihundert Kinos mit durchschnittlich 450 Plätzen. Sie geben drei bis vier Vorstellungen pro Tag. Das macht, mit dreiviertelvollen Häusern gerechnet, täglich fast 300 000 (dreihunderttausend!) Menschen in einer nicht so großen Stadt“ (Béla Balázs Der sichtbare Mensch 1924 S. 11f.). Es war neu im Vergleich mit den Filmvorführungen der ersten Jahre, indem nun auch die traditionell gebildeten Schichten das bis dahin als niedrige Kultur geltende und daher abschätzig betrachtete Kino besuchten. Das neue Publikum stellte auch eine Aufgabe dar, da es für kommerzielle, künstlerische, ideologische Zwecke mit Erfolg erreichbar werden musste. Es war auch eine theoretische Herausforderung, die nicht nur unterschiedliche Erklärungsansätze anregte, sondern die Bedeutung des Begriffs Kultur änderte. Im Vortrag werden einzelne Antworten auf diese theoretische Herausforderung miteinander verglichen.
Alexander Gruber: Die Kunst der Unfreiheit. Zu den gesellschaftlichen Bedingungen künstlerischer Produktion
Laut Theodor W. Adorno ist es den Komponisten Schönberg, Berg und Webern in ihren Werken gelungen, den Raum zu schaffen für eine ästhetische Konstruktion aus Fantasie und Freiheit, die das Bild einer versöhnten Gesellschaft ohne Herrschaft in sich trage. Dennoch, so Adornos Urteil, habe sich diese Form der künstlerischen Produktion nicht verallgemeinert. Im Gegenteil: der revolutionäre Gehalt der Neuen Musik in ihrer Gesamtheit erwies sich als weit schwächer, als es ursprünglich den Anschein hatte, und sie unterwarf sich doch wieder den gesellschaftlichen Forderungen. Das verweist auf die soziale Lage der Kunst im Allgemeinen: die Produktion aus Freiheit erheischt einen Zustand, der in der herrschenden Gesellschaft gerade nicht gegeben ist. Die Allseitigkeit der Abhängigkeit und Unfreiheit ist die »geheime Lineatur«(Adorno), die jene Fantasie und Freiheit verunmöglicht, welche die Kunst zu ihrer Bedingung hat, wenn sie denn ihrem Begriff gerecht werden möchte. Dies ist die Aporie, der jedes Nachdenken über Ästhetik sich heute zu stellen hat.
Florian Ruttner: „Die Tendenz zur epischen Oper“. Křeneks Karl V. und die Tücken der künstlerischen Geschichtsbetrachtung
Ernst Křeneks Opus Karl V., das er als „Bühnenwerk mit Musik“ bezeichnete, ist von Widersprüchen durchzogen: Ein musikalisch avantgardistisches Werk, dessen Held verzweifelt die mittelalterliche Reichsidee verteidigt, ein Werk, das inhaltlich während des aufstrebenden Austrofaschismus mit dessen Österreichpatriotismus, dessen Habsburgernostalgie und dem Katholizismus sympathisiert (wenn auch mit antinationalsozialistischer Stoßrichtung), und das gleichzeitig künstlerisch eine eigenständige Form von Brechts epischem Theater entwickelt, ja, dessen Autor darüber hinausgehend Überlegungen zur künstlerischen Geschichtsbetrachtung anstellte. Kurz, ein Werk, in dem Momente der Moderne wie einer Gegenmoderne zu finden sind.
Diese Widersprüche führten nicht nur dazu, dass das Stück nicht wie geplant in Wien aufgeführt werden konnte, sondern erst später in der – nicht gerade als Hochburg des Katholizismus bekannten – Tschechoslowakischen Republik. Der Vortrag wird diese widerstreitenden Tendenzen untersuchen, und auch, wie sich diese in der Korrespondenz zwischen Křenek und Theodor W. Adorno niederschlugen.
Christian H. Stifter: Demokratisierung des Wissens. Wissenschaftsorientierte Volksbildung in Wien, 1900–1933
Überblickt man die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der institutionalisierten Volksbildung in Europa, so fällt einem dabei ein wesentliches Spezifikum ins Auge, das die Volksbildung früherer Tage prägte: Die urbanen Volksbildungsaktivitäten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind charakterisiert durch die zentrale Rolle, die der Wissenschaft beziehungsweise wissenschaftlichem Wissen darin zukamen. Sowohl die Angebotsformate als auch die Inhalte jener Bildungsaktivitäten als primär wissenschaftszentrierte Bildungs- und Wissensvermittlung beschreiben, wobei der spezifischen Ausprägung, die diese Form von Wissenschaftspopularisierung insbesondere in Wien bis in die Zwischenkriegszeit erreichte, im europäischen Kontext eine Sonderrolle zukommt.