Class is back. Sie war nie weg. Aber sie war auch nicht gegeben. Aus dem Schatten produktivistischer Vielheits- und elastischer Prekaritätstheorien tritt Klasse als Konzept und Wirklichkeit in ihrem Nicht-Dasein hervor. Klasse gibt es nicht ohne Einrichtung und ‚Bewusstsein‘; es gibt sie im Klassenkampf und als Konstellation, weniger als Kultur; es gibt sie als Selektions-Operator; im Murks intersektionaler Gewaltregimes; als indiskrete Scham des Proletariats und konkrete Schamlosigkeit der Bourgeoisie, deren gesegnete Klassenmacht neofeudal außer sich ist. Thema dieses Vortrags- und Diskussionsabends ist, wie Klasse Erfahrung wird: in Kunst, Film, Video und Bildungssystem.
Programm
16.30 Ruth Sonderegger: Massive Klassenverhältnisse. (Kunst)Universitäre Bildung
Moderation: Drehli Robnik
17.45 Jens Kastner: Klasse als Kampf(begriff). Zur Klassenblindheit (in) der bildenden Kunst
Moderation: Karin Harrasser
19.00 Drehli Robnik: Class Is Us: Zur Film-Wahrnehmung von Verhältnissen des Oben und Unten, Gegner*innen und Außen
Moderation: Karin Harrasser
20.15: Renée Winter: Video mit Klasse. „Arbeiterfernsehen“, Zeugnis und Video als Selbstoptimierungsinstrument im Neoliberalismus.
Moderation: Joachim Schätz
Abstracts und Kurzbiografien der Vortragenden
Ruth Sonderegger: Massive Klassenverhältnisse. (Kunst)Universitäre Bildung
Im Zug der Entwicklung des kognitiv aufgerüsteten und kreativisierten Kapitalismus haben numerisch gesehen zwar durchaus mehr Menschen Zugang zu (kunst-)universitärer Bildung erhalten als bis in die 1970-er Jahre; nicht umsonst hat sich im Zusammenhang dieser Entwicklung unter anderem der Abwertungsbegriff der Massenuniversität etabliert. Gleichwohl ist künstliche Zugangsverknappung – unter Zuhilfenahme alter und neuer, hybrider Klassismen – nach wie vor ein entscheidendes Regierungsinstrument hinsichtlich des massiven Begehrens auf Wissen und Kreativität. Wie kann man dieser Situation theoretisch und praktisch begegnen, ohne auf einen nostalgisch identitären Klassenstandpunkt zu setzen?
Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Forschungsfelder sind: Geschichte der Ästhetik (im Kontext des kolonialen Kapitalismus), Praxistheorien, Cultural Studies, kritische Theorien und Widerstandsforschung. Letzte Buchpublikationen: Foucaults Gegenwart. Sexualität – Sorge – Revolution (Ko-Autorinnen: G. Ludwig and I. Lorey), Wien 2016; Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, Wien 2019.
Jens Kastner: Klasse als Kampf(Begriff). Zur Klassenblindheit (in) der bildenden Kunst
Klasse ist in doppelter Hinsicht ein Kampfbegriff: Er zielt darauf, das Ausbeuterische und Segregierende von ökonomischer und kultureller Herrschaft sichtbar zu machen und er zielt zugleich auf die sichtbare Konstitution einer Akteurin gegen diese Ausbeutung und Spaltung. Nun kann man sich fragen, welche Rolle die bildende Kunst als gesellschaftlicher Spezialbereich der Sehverhältnisse – also als Produktions-, Rezeptions- und Verhandlungsort der Bewertung von Sehen und Gesehenem –, zur (Un-)Sichtbarkeit und damit auch zur (Nicht-)Repräsentation von Klasse, speziell der Arbeiter*innenklasse, beigetragen hat und beiträgt. Die Antwort lautet „Viel!“. Und sie ist Thema dieses Vortrags.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker. Er arbeitet als Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der Bildenden Künste Wien und als Privatdozent an der Leuphana Universität Lüneburg. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (Jungle World, springerin, ak – analyse & kritik u.a.). Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst-, Kultur- und Sozialtheorien sowie Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen. Er ist koordinierender Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien).
Drehli Robnik: Class Is Us – also ein Verhältnis: Zur Film-Wahrnehmung von Gegner*innen und Außen
Ich möchte zwei Einsichts-Schauplätze, sights of insight, beziehen – und in ihrer kontingenten Verknüpftheit aufeinander beziehen; nämlich politische bzw. politisierte Theorie und Mainstream-Film (also halbwegs nicht-elitäre Arten von Film). Wenn ich die alte Frage aufgreife, durch welche filmische Inszenierungen Klasse wahrnehmbar wird, dann sind vorausgesetzte Fragen mit gestellt: Was stellen wir uns unter Wahrnehmung vor? Und: Was stellen wir uns unter Klassen vor? Da gilt es, Unterschieden nachzugehen, die es macht, wenn Klassen eher über Identität, Kultur und Bewusstsein gefasst werden oder aber eher im Zeichen von Verhältnissen: bei weitem nicht nur ökonomischen Verhältnissen, sondern solchen der Gegner*innenschaft oder der (In-)Subordination, die in den Bereich der Politik fallen.
Eine Klasse ist kein Kartoffelsack und keine Kaste (weder Addition noch Tradition). Das lernen wir von Marx bzw. Balibar. Und: Klasse wird unweigerlich von ‘anderen Kategorien’ heimgesucht, sie interferiert mit Race und Gender. Sei es in ‘identitären’ Beschwörungen von ‘Zusammenhalt gegen’; sei es in Inszenierungen, die solche Überschneidungen wahrnehmbar machen – im vollen Sinn (und samt aufgehender Schere). Letzteres versuche ich darzulegen v.a. entlang rezenter Sozialhorror-Thriller-Satiren von Jordan Peele (GET OUT und US).
Drehli Robnik ist Theoriedienstleister in Sachen Film & Politik, Möchtegernphilosoph, Nebenerwerbsessayist, Gelegenheitskritiker, musikbasierter Edutainer. “Lebt” in Wien-Erdberg. Er ist Herausgeber u.a. der Film-Schriften von Siegfried Mattl (2016), Autor von Monografien zu Anti-Nazi-Widerstand im Kino/TV, zu Jacques Rancières Film/Politik-Theorie, sowie jüngst: Kontrollhorrorkino: Gegenwartsfilme zum prekären Regieren (2015); Herausgeber von Put the X in Politix. Machtkritik und Allianzdenken mit den X-Men-Filmen (Berlin 2019); Mitherausgeber von: Film und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer (Wien, Berlin 2018). Monografie demnächstest: DemoKRACy: Siegfried Kracauers Politik*Film*Theorie. https://independent.academia.edu/DrehliRobnik.
Renée Winter: Video mit Klasse. “Arbeiterfernsehen”, Zeugnis und Video als Selbstoptimierungsinstrument im Neoliberalismus.
Welche Verknüpfungen Video mit Klasse, mit Kapitalismus, mit herrschenden Machtverhältnissen und mit dem Regieren historisch einging und aktuell eingeht, das steht hier zur Diskussion. Viele Hoffnungen auf Gesellschaftsveränderungen wurden seit den 1970er Jahren in das Medium Video gesetzt. In Videoprojekten wird das Potenzial zur Identitäts- und Bewußtseinsbildung der Arbeiter_innen betont, durch die Videokamera betrachtet entblöße der Kapitalismus sich quasi selbst. Mit Camcorder und Smartphonekamera entwickelt sich Video zum allgegenwärtigen Selbstthematisierungsmedium – billiger als Schmalfilm erlaubt es eine audiovisuelle Selbstdokumentation breiter Bevölkerungsschichten. Video wird Zeugnis: Zeugnis von Lebensrealitäten wie Zeugnis von Gewalt, zumal rassistischer Polizeigewalt, aber auch anderer Versuche der Aufrechterhaltung der (Gesellschafts-)Ordnung. Neoliberale Blickregime richten die Kamera zurück auf die Subjekte selbst, die – als selbstverantwortlich für ihr Leben unter prekären Bedingungen gesetzt – mittels Videotraining die nötigen Optimierungen an sich vornehmen, um auf- oder zumindest nicht abzusteigen.
Renée Winter ist Historikerin und Kulturwissenschafterin mit den Forschungsschwerpunkten Mediengeschichte, Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Gender, Migration/Postkolonialismus und einem starken Interesse an Intersektionalität und Interdisziplinarität. Derzeit leitet sie ein FWF-Projekt zu Video als Selbsttechnologie am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien. 2014-2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Mediathek – 2014 erschien ihre Publikation „Geschichtspolitiken und Fernsehen. Repräsentationen des Nationalsozialismus im frühen österreichischen TV“. Lehre an verschiedenen Instituten in Wien, Linz und Salzburg.